differenziertes schulsystem? Her damit, aber ohne schwindel

Wenn bis dato von einem differenzierten Schulsystem gesprochen wurde, dann war so gut wie immer die Zweigleisigkeit des österreichischen Schulsystems nach der Selektion von erst Zehnjährigen (Gymnasiale Unterstufe oder HS/NMS) gemeint. Der Duden versteht unter "differenziert": abgestuft, aufgefächert, genau, in sich gegliedert/gestuft, nicht pauschal, nuanciert.Was mich ärgern kann ist, dass manche dabei im wahrsten Sinn des Wortes nicht bis 3 zählen können oder wollen.

 

Wenn konservative Kreise, und zwar nur mehr im deutschsprachigen Raum, bisher erfolgreich so viel Wert auf die Parallelität der Sekundarstufe Eins in Gymnasium und Hauptschule/Neue Mittelschule legen und Erziehungsberechtigte deshalb schon ab der 3. Klasse Volksschule mit Argusaugen darüber wachen müssen, dass ihre Schutzbefohlenen alle Voraussetzungen für die "AHS-Reife" am Ende der 4. Volksschulklasse testiert erhalten, dann wird dabei auf die individuellen Entwicklungsgeschwindigkeiten von kleinen Schulkindern genauso wenig Rücksicht genommen wie auf die Stresssituationen, die dadurch entstehen. Ich halte daher diese konservative Einstellung für zu wenig differenziert(sic!).

 

Bis 3 zählen können:

Wenn (nach internationalem Konsens) im deutschsprachigen Raum viel zu früh die Entscheidung zwischen zwei Schularten gefällt werden muss, dann hat man dabei nur zweiEntscheidungsmöglichkeiten. Im Fall der Hauptschule mit drei Leistungsgruppen, bei der die höchste denselben Ansprüchen genügen muss wie die AHS-Unterstufe (identer Lehrplan!), sind statt nur zwei dreiVarianten vorhanden, wobei es diese "Dreifaltigkeit" obendrein ermöglicht(e), dass Jugendliche mit einer Teilleistungsschwäche wegen dieser nicht daran gehindert werden/wurden, in den beiden anderen "Hauptfächern" in Gruppe Eins zu reüssieren. "DrittgruppistInnen" dürften ja in den gymnasialen Unterstufen eigentlich gar nicht vorkommen. Zumindest theoretisch. In den ersten vier Klassen eines Langform-Gymnasiums unterrichtet eine Lehrkraft bis zu 30 SchülerInnen. Wieviel Differenzierung bzw. Individualisierung dabei möglich ist, brauche ich nicht näher zu erörtern.

 

Eine bestimmte Form der Differenzierung gab/gibt es allerdings zunehmend: Während sich in ländlichen Hauptschulen Jugendliche aller Leistungsniveaus tummelten, gab es in finanzstärkeren Gegenden von Ballungsräumen bis weit über 90 % der Volksschul-AbsolventInnen, die in die gymnasiale Unterstufe übertraten. Entweder die intellektuelle Kapazität von Zehnjährigen korreliert stark mit der Finanzstärke ihrer Eltern, oder die Bezeichnung der beiden Schularten war/ist viel zu wenig aussagekräftig.

 

Und negativer Stressallerorten bei diesem System: Von Rechtsanwälten ob der AHS-Reife ihrer SchülerInnen bedrohte VS-LehrerInnen, imagegeschädigte HauptschülerInnen im städtischen Raum, qualifizierte HS-LehrerInnen, die an sogenannten "Restschulen" qualitatives survival teaching absolvieren mussten, AHS-Lehrkräfte, die wegen Arbeitsplatzerhaltung mit einer dermaßen gestreuten Qualifikation ihrer vielen SchülerInnen Myriaden von Gedulds- und Nervenzellen opfern mussten/müssen, bis hin zum Elend quälender Nachhilfestunden für überforderte JunggymnasiastInnen in Kombination mit Abermillionen Euro jährlicher Kosten für die ehrgeizigen Eltern.

 

Eine echte Schulreform ist schon lange überfällig. Ohne Zweifel.

 

EntscheidungsträgerInnen im deutschsprachigen Raum hätten eigentlich den Vorteil, die Erfahrungswerte aus allen anderen Ländern, die schon vor Jahrzehnten Schulreformen umsetzten, so gut wie kostenlos auszuwerten und für alle Betroffenen ihrer Länder zu nutzen.

Was geschah/geschieht stattdessen in Österreich? Durch die jahrzehntelangen ideologischen Grabenkämpfe ist die Bildungssituation dermaßen verfahren, wie wir sie von der Sekundarstufe Eins bis hinauf zu den Universitäten, besonders aber an den Pädagogischen Hochschulen wahrnehmen müssen. Baustellen, wohin man blickt, Husch-Pfusch-Umstrukturierungen auf dem Rücken aller Schulpartner. Für die eigentlich dafür zuständige Institution, das BIFIE, kann nach all den Pannen, Pech und Pleiten bisweilen nur mehr die Unfähigkeitsvermutunggelten. Für das Bildungsministerium angeblich noch Schlimmeres.

 

Beispiel Sekundarstufe Eins:

 

ÖVP-Gehrer war als Unterrichtsministerin in erster Linie damit beschäftigt, durch Einsparungen "ein Budget zu sanieren. Basta." (O-Ton). Das Unterrichtsministerium wechselte per März 2007 in sozialdemokratische Führung. Claudia Schmied wollte die gemeinsame Schule aller Schulpflichtigen einführen, seitens der ÖVP war diesbezüglich Totalblockade angesagt, suboptimal in einer Koalition. Letztendlich versuchte Schmied die "Gesamtschule" durch die Hintertür herein zu bringen, in Form der "Neuen Mittelschule". Damit konnte aber wegen des Erhalts der AHS-Unterstufe von Anfang an von keiner gemeinsamen Schule die Rede sein. Von Schmieds Hoffnung, durch ein attraktives Angebot die SchülerInnenscharen zum Überlaufen in die NMS zu animieren, blieb praktisch nichts übrig. Das "attraktive Angebot" sollte aus Einsparungsgründen auf dem Rücken der LehrerInnen generiert werden, Stichwort "Zwei Stunden mehr unterrichten und nichts dafür bekommen." Bei den PV-Wahlen 2009 bekam ihre Fraktion dafür einen klaren Denkzettel.

Wie eine NMS dann wirklich aussehen soll, in dieser Frage kochten sich sogleich die einzelnen Länderchefs ihr eigenes Süppchen. Dass bei dieser Art von Improvisation Chaos und Pannen vorprogrammiert waren, war eigentlich absehbar. Schmied warf letztendlich das Handtuch, Nachfolgerin Heinisch-Hosek (das Gegenteil von gut ist gut gemeint) wollte trotz weiterer Einsparungen "durchziehen".

Das Personal in der Bildungspolitik, nämlich die LehrerInnen, wurden nie gefragt, stattdessen sogenannte BildungsexpertInnen und "Stakeholders". Der dadurch natürlich wachsende Widerstand der PädagogInnen gegenüber fragwürdigen Umstrukturierungen und qualitativ verbesserungswürdiger Fortbildung in Sachen Schulreform wurde/wird per Beschäftigungstherapie und Druck seitens der SchulaufsichtsbeamtInnen niedergehalten.

 

Es ist gut, dass die autoritären Zeiten in der offiziellen Pädagogik vorbei sind. Ernstnehmen und Respekt, Begegnung mit Empathie und auf Augenhöhe, positive Verstärkung, Mitbestimmung und Vorbild sein in Kompetenz und Bemühen, auf diese Art soll eine moderne Lehrkraft ihren SchülerInnen zu Recht begegnen. All dies fehlt mir leider im Umgang der Schulhierarchie mit den Lehrerinnen und Lehrern, von wenigen Ausnahmen abgesehen. So schafft man bestenfalls Friedhofsruhe und Frustration, aber das kann doch kein Ziel sein!

 

Per Teamteaching in den "Trägerfächern" soll guter individueller Unterricht in heterogenen Klassen ermöglicht werden. Erste Reaktion Heinisch-Hoseks auf ein weiteres Spardiktat des damaligen Finanzministers war, die Stunden für das Teamteaching zu kürzen und "kreative Lösungen zu finden". Spätestens ab diesem Moment hat sie nicht nur mein Vertrauen verloren.

 

Desinformationals Zugabe:Das finnische Bildungswesen wird so zitiert, dass darin größtmögliche individuelle Förderung der einzelnen SchülerInnen stattfindet. Darunter kann sich eine österreichische NMS-Lehrkraft eigentlich nur vorstellen, dass sie sich für jede Stunde und jede/n SchülerIn gesondert optimal vorbereiten soll, wie ein/e SonderpädagogIn, nur mit einem Vielfachen an SchülerInnen.

Erlebte Tatsache ist, dass in Finnland, mit einem vorbildlichen Respekt der LehrerInnen ihren SchülerInnen gegenüber, hauptsächlich das stattfindet, was wir unter Frontalunterricht verstehen (den ich natürlich nicht per se gutheiße!). Keine Lehrkraft kann sich zwischen Dutzenden von SchülerInnen "zersprageln".

Eine intensive Individualisierung erfolgt in Finnland durch äußere Differenzierung(Herr Dr. Vierlinger, es tut mir für Sie leid, wenn Sie das lesen müssen!). Die SchülerInnen stellen sich mit jedem Schuljahr mehr ihren individuellen Stundenplan zusammen, keine Fächer fürs ganze Jahr, sondern mehrwöchige Module. In der gemeinsamen Sekundarstufe Eins wissen jene SchülerInnen, die Richtung Reifeprüfung kommen wollen, genau, welche Module sie dafür rechtzeitig belegen müssen. Aber es werden nicht alle gezwungen, sich durch denselben Einheitsbrei an Fächern durchzuquälen. Das nimmt viel Druck heraus und verbessert dadurch die schulische Gesamtatmosphäre.

 

Diese meine Stellungnahme ist eine sehr persönliche und nicht Beschlusslage von kuli-UG, ÖLI-UG oder unseres Listenpartners GPV. Über Rückmeldungen freue ich mich prinzipiell, bitte an wilfried.mayr@kuli.net, teilen Sie mir dabei bitte mit, ob Ihre Rückmeldung auch veröffentlicht werden darf, mit oder ohne Namensnennung.

 

Wilfried Mayr

 

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